Heimatblatt 02/2010 Gespräch mit dem Bürgermeister

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, der Haushalt der Gemeinde für 2010 wurde vom Gemeinderat am 18.02.2010 bes­chlossen. Alle wesentlichen Aufgaben können in Angriff genommen werden. Am Jahresende wird die Pro-Kopf-Verschuldung auf 513 Euro je Einwohner gesenkt worden sein. Hat Niederfrohna angesichts solcher Werte in einer Zeit der Krisen als selbständige Gemeinde eine sichere Zukunft? Bürgermeister Klaus Kertzscher: Grundsätzlich muss man feststellen, dass über Eingemeindungen seit dem letzten Jahrhundert, trotz aller demokratischer Floskeln, weniger die Beteiligten, sondern der jeweilige Gesetzgeber entscheidet. Seit 1990 wurden die Schlüsselzuwe­isungen an die Gemeinden aus dem Steueraufkommen ihrer Einwohner reduziert. Im gleichen Maße wurde die Zahl der sächsischen Gemeinden von über 1200 auf etwa 480 reduziert. (Zum Vergleich: in Bayern gibt es heute noch mehr als 2500 selbständige Städte und Gemeinden) Zwar habe ich noch die Worte unseres Ministerpräsidenten aus dem Wahlkampf im Ohr, wonach es mit ihm in der nächsten Legislaturperiode keine Eingemeindungen geben werde, aber aus Dresden hört man derzeit (Freie Presse vom 01.02.2010) schon wieder andere Töne.

Kann man in Sachen Eingemeindung davon ausgehen, dass unsere Staatsregierung in Dresden in der jetzigen Krise politische Entscheidungen an der Kosten-Nutzen-Relation messen wird?

Bürgermeister Klaus Kertzscher: Ich wäre glücklich, wenn man in dieser Frage solche Kriterien anlegen würde. Das müsste generell so sein, setzt aber voraus, dass man die Erfahrungen der bisherigen Eingemeindungen, Verwaltungsge­meinschaften und Zentralisierungen einmal im Lichte des Verhältnisses von Kosten und Nutzen analysieren würde. Vorher wurde von der Landesregierung immer behauptet, dass es zu den Reformen keine Alternative gäbe und dass diese Einsparungen in Größenordnungen brächten. Nach den spektakulären Aktionen herrschte dann Stille. Mir sind bisher keine öffentlich zugänglichen Untersuchungen der vergangenen Kreis- und Gemeindegebiet­sreformen unter Kosten-Nutzen-Aspekt bekannt. Leider!

Wie sind Ihre Erfahrungen?

Bürgermeister Klaus Kertzscher: Mit der vom Gesetzgeber angeordneten Verwaltungsge­meinschaft mit der Stadt Limbach-Oberfrohna übernahm die Stadt die Arbeit der früheren Kernverwaltung für uns. Die Kosten dafür verdoppelten sich daraufhin, obwohl die Einbeziehung der Gemeinde in die Verwaltungsge­meinschaft mit zu erwartenden Einsparungen begründet worden war. Ich bin nach dem Gesetz zur sparsamsten Haushaltsführung verpflichtet, wie alle anderen Bürgermeister auch. Die Ursache für das Dilemma liegt aber in den nicht abgeschätzten Folgen der Entscheidung des Gesetzgebers in Dresden begründet. An unserem Beispiel wird deutlich, dass die finanziellen Folgen der unter der Verheißung von Einsparungen verabschiedeten Zentralisierun­gsgesetze in der Ausdehnung des städtischen Verwaltungsstan­dards auf das flache Land begründet sind. Damit wird eine aufwändige Kompliziertheit überdehnt, die in den ländlichen Gemeinden einfach unnötig ist, und die die Städte letztlich selbst in ernste Finanzierungspro­bleme bringen wird. Aber nicht nur, dass es keine Einsparungen gibt: die Kosten haben sich real verdoppelt.

Ist Niederfrohna ein Einzelfall?

Bürgermeister Klaus Kertzscher: Ich glaube nicht, dass man mit Zentralisierungen jemals Kosteneinsparungen erwirtschaften konnte und kann. Man sollte deshalb endlich einmal nach den Kosten der Zentralen fragen, einschließlich der von ihnen verursachten kapitalen Schäden. Ich denke da z.B. an das Landesbank-Desaster.

Die Zentralisierungen haben den demographisch bedingten Polarisierungspro­zess in Sachsen eher noch verstärkt: Die Großstädte Leipzig und Dresden gewinnen an Einwohnern, alle anderen, mittlere Städte und besonders Kleinstädte, verlieren dagegen. Der ländliche Raum in strukturschwachen Landstrichen wird aufgegeben. Das ist keine nachhaltige Politik.Zudem verursacht diese Politik heute eine strukturelle Zentralisierung: die Schließung von Grund- und Mittelschulen, Kindertagesstätten sowie Kirchen. Die sozialen Folgen sind verheerend. Wissenschaftlich ist schon lange nachgewiesen, dass Kinder und ältere Menschen beständige, erreichbare, überschaubare Umgebungen brauchen.

Nicht zuletzt sind die Folgen der Zentralisierung etwa für das Vereinslebend verheerend und unvertretbar. Ein natürliches Miteinander von Nachbarn verschiedener Generationen und in der Familie würde zur Ausnahme. Mit der Identifikation geht auch das Engagement der Bürger des jeweiligen Ortes, das ortstypische Anfassen und Mitmachen verloren.

Die Landespolitik sollte vielleicht weniger über die Kommunen, sondern mehr mit den Kommunen reden, wenn Entscheidungen anstehen.

In Dresden ist man stolz darauf, dass diese Entscheidungen in der Tradition der Landesentwicklun­gsplanungen aus den 1920er Jahren getroffen wurden. Damals war Sachsen eines der ersten Länder, die die Entwicklung von Städten und Gemeinden planen wollten. Muss man das nicht anerkennen?

Bürgermeister Klaus Kertzscher: Sicher muss man diese Tradition anerkennen. Aber es war ja auch eine andere Zeit. Zwischen 1830 und 1930 verzehnfachte sich die Einwohnerzahl in Sachsen. Damals mussten in ungeheurem Tempo Eisenbahnlinien, Straßen, Wohnungen und Versorgungsle­itungen gebaut werden. Der Chemnitzer Stadtbaumeister Fred Otto ging vor wie ein Generalstabsof­fizier. Die Gesetze der Landesentwicklun­gsplanung basieren auf den Erfahrungen dieser Zeit. Die Industrie brauchte massenhaft Arbeitskräfte und die Städte wuchsen rasant. Selbst die Einwohnerzahlen der Dörfer stiegen. Aber wir leben heute unter ganz anderen Bedingungen. Die automatisierte Groß-Industrie braucht mittelfristig kaum noch Arbeitskräfte. Die Einwohnerzahlen gehen in einem Tempo zurück, dass uns noch Hören und Sehen vergehen wird. Das muss man zur Kenntnis nehmen und die Politik schnellstens verändern.

Die sächsische CDU bestimmt seit 1990 die Gesetzgebung in Dresden. Hat man in dieser Partei den Kontakt zur sozialen Realität verloren?

Bürgermeister Klaus Kertzscher: Das kann ich so nicht beurteilen. Entscheidend für uns Kommunalpolitiker ist, wie Altkanzler Kohl ein mal sagte, »was hinten herauskommt«. Ich würde zudem lieber differenzieren. AltMinisterpräsi­denten Prof. Kurt Biedenkopf beging eben seinen 80. Geburtstag. Im Namen unseres Gemeinderates möchte ich nachträglich ganz herzlich gratulieren. So wie er zusammen mit Meinhard Miegel schon frühzeitig auf die Probleme hinwies, die sich aus der realen demographischen Entwicklung etwa für unser Rentensystem ergeben, so verwies er auch in seinem Buch »Einheit und Erneuerung« darauf, dass die Politik bisher auf wachsende Komplexität der Wirklichkeit nur mit wachsender Kompliziertheit der Verwaltung antwortete. Professor Biedenkopf plädierte seinerzeit für eine schlanke Verwaltung und Dezentralisierung. Aber er fand in seiner eigenen Partei, selbst in der von ihm geführten Regierung kein Gehör.

Wir sehen täglich, dass er auch hier Recht hatte. Jedes Jahr kommende Tausende Seiten Gesetzestext zu unseren jetzt schon umfangreichen Gesetzen hinzu, die Vorgänge werden überkompliziert. Die Bürokratie umschließt uns wie ein »stählernes Gehäuse«. Die Zahl der Formulare steigt. Die Bearbeitungszeiten wachsen. Der Überblick geht verloren. So entsteht die organisierte Unverantwortlichke­it.

Warum glaubte man Prof. Biedenkopf nicht?

Bürgermeister Klaus Kertzscher: Wahrscheinlich, weil wir die neuen Probleme immer an den alten Erfahrungen messen. Zudem machte man die alten Erfahrungen in Gesetzen fest. Aber die Erfahrungen sind nur ein Moment, um soziale Realität, Geschichte wahrnehmen zu können. Es wird viel vom Lernen aus den Erfahrungen und der Geschichte geredet. Doch hier geht es nicht um bloße Wiederholung. Die Geschichte wiederholt sich zwar, doch nie auf gleiche Weise, immer anders. Das ist das Problem. Dem müssen wir uns stellen. Gerade in einer Zeit der Krisen müssen wir den Mut haben, alte Erfahrungen radikal zu überdenken. Das erwarte ich auch vom Gesetzgeber in Dresden.

Was schlagen Sie vor?

Bürgermeister Klaus Kertzscher: Eine Nüchterne Lageanalyse, ohne ideologische Vorgaben. Klärung der Frage, ob weiter einseitig auf Zentralisierung gesetzt wird oder auch Dezentralisierung zugelassen wird.

Wenn weiter einseitig auf Zentralisierung gesetzt wird, dann muss man in Dresden offen und ehrlich sagen, dass dann die Entwicklung in Sachsen auf die weitere Reduzierung der Zahl der Gemeinden und auf die Förderung einiger wenige Großstädte hinauslaufen wird. Mittel- und Kleinstädte würden verschwinden. Der ländliche Raum würde aufgegeben. Die Verwaltungskosten würden unter dem Strich steigen.

Vielleicht sollte, wer von »Hochzeitsprämie« redet, auch »Scheidungen« zulassen.

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, vielen Dank für das Gespräch.

(19.02.10 ae)