Heimatblatt 04/2010 Leserbrief von Bürgermeister Klaus Kertzscher an die Freie Presse

Wortlaut eines Leserbriefes von Bürgermeister Klaus Kertzscher an die Freie Presse:

Am 14.04.2010 veröff­entlichte die »Freie Presse« auf Seite 2 ein Interview von Hubert Kemper mit dem sächsischen Innenminister Markus Ulbig. Grundsätzlich ist zu begrüßen, dass die jetzige sächsische Regierung unter Herrn Tillich, anders als unter Prof. Milbradt, über die demographische Entwicklung offen redet. Worum geht es? Nach dem stürmischen Bevölkerungswachstum zwischen 1830 und 1930 erleben wir nun den umgekehrten Prozess. Ohne Zweifel eine unbekannte Situation.

Was sagt der Innenminister? Der Herr Innenminister darf im Interview ohne störende kritische Fragen seine Vorstellungen entwickeln. Auf den Bevölkerungsrückgang will er mit Eingemeindungen reagieren. Mit Prämien will er bis 2012 für freiwillige Übergänge aus Verwaltungsge­meinschaften in Einheitsgemeinden werben. Wie es danach weiter gehen soll, das verrät der Minister nicht. Der Journalist weiß, dass ab 2025 vom Gesetzgeber die Mindestgröße für Gemeinden im ländlichen Raum bei 5000 und in Großstadtnähe bei 8000 Einwohnern festgelegt werden wird.

»Im Idealfall«, so der Minister, »sollte die Vernunft entscheiden.« Für den Minister ist dem Anschein nach »Vernunft« identisch mit der sächsischen Regierungspolitik: Es gibt keine Alternative. Zentralisierung ist der einzig richtige Weg! Einmal in einem solchen Stadium angekommen, hinterfragt die heutige Politik ihr Vorgehen auch nicht mehr unter methodischem Aspekt. Zweifel werden verdrängt.

Aber eine solche unreflektierte Politik wird wiederum fragwürdig: Konnte die bisherige Anwendung des Zentralisierungs-Paradigmas Kosten einsparen und die kommunale Selbstverwaltung stärken? Welche Kosten verursachten bisherige Zentralisierungen? Bezeichnend ist, dass solche Fragen heute nicht öffentlich diskutiert werden.

Aber wie lange will man denn Dörfer noch verstädtern, Schulen schließen und Kirchen für die Schließung vorbereiten? Wo soll das hinführen?

Die Wissenschaft hat nachgewiesen, dass Kinder und ältere Menschen stabile, überschaubare Lebensumgebungen brauchen. Die Identität einer Gemeinde ist mit der kommunalen Selbstverwaltung verbunden und beschränkt sich nicht auf das Ortsschild, wie der Minister im Interview sagt.

Unsere Erfahrungen besagen, dass sich seit der Verwaltungsge­meinschaft mit unserer Nachbarstadt die Kosten für die Kernverwaltung etwa verdoppelten. Das ist nicht verwunderlich und aus unserer Sicht ein allgemeines Problem, wird doch mit der Verwaltungsge­meinschaft oder mit der Eingemeindung der städtische Verwaltungsstandard auf das flache Land ausgedehnt.

Einerseits ist ein solcher Standard im ländlichen Raum gar nicht nötig. Andererseits überdehnen die Städte mit solchen Praktiken selbst ihre Möglichkeiten. Trotz erhöhter Steuerzuweisungen als Folge von Eingemeindungs-Einwohnerzuwachs dürften am Ende die Kosten größer sein als die Mitnahmeeffekte.

Der Verfall beginnt bei vielen Städten im Zentrum. Das heute vorherrschende Zentralisierun­gsparadigma beförderte den Einwohnerzuwachs von Dresden und Leipzig. Alle anderen Städte werden verlieren. Im Jahre 2025 werden viele heutige Kleinstädte in Großstadtnähe nicht einmal mehr die geforderten 8000 Einwohner auf die Waage bringen. Wir denken lieber nicht daran, welche räumliche Ausdehnung dann Dörfer mit 5000 Einwohnern haben sollen.

Schlägt nicht ein Politik-Paradigma, das in der Vergangenheit richtig war, unter veränderten Bedingungen in sein Gegenteil um?

Wird nicht das, was früher richtig war, plötzlich ein Fehler?

»Vernunft«, so kann man nachlesen, »ist unsere Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen.« Wenn das so ist, müsste zunächst ein öffentlicher Diskurs über Folgen und Kosten der Zentralisierungen seit 1990 stattfinden. Die Frage nach einer angemessenen strategischen Reaktion auf den Bevölkerungsrückgang muss ergebnisoffen von der sächsischen Bevölkerung diskutiert werden. Das Problem ist zu ernst, um es den Berufspolitikern zu überlassen.

Bisherige Fehler müssen als solche benannt und korrigiert werden. Voreilige strategische Festlegungen und einseitige Orientierungen an der Vergangenheit sind für die Zukunft Sachsens nicht hilfreich.

In Bayern vermochte die CSU aus Fehlern zu lernen. Dort ist es möglich, einstige Gemeinde-Fusionen wieder rückgängig zu machen.

Wer »Gemeinde-Hochzeiten« anregt, der muss auch an »Scheidungen« denken. Noch ist Zeit für eine Umkehr.

Klaus Kertzscher Bürgermeister